Kompromissvorschlag zur Wahlrechtsreform in BL

Es ist an der Zeit, fünfzig Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971, das Wahlverfahren aus der Perspektive der Wählerinnen und Wähler zu betrachten.

Der nachfolgende Vorschlag versucht, sowohl Befürworter als auch Gegner der Wahlrechtsreform zu einem fairen Kompromiss zu führen.

Das geltende Gesetz benachteiligt kleinere Parteien und bildet den Wählerwillen unzureichend ab, schützt jedoch bevölkerungsschwache Wahlkreise, indem es ihnen sechs Sitze garantiert.

In der Abstimmungsvorlage wird das Doppelproporzverfahren von Pukelsheim vorgeschlagen. Dieses Wahlverfahren hat sich in mehreren Kantonen bewährt und ist ein Schritt in die richtige Richtung. Völlig unverständlich ist hingegen, weshalb einem Wahlkreis neu nur noch ein einziger Sitz garantiert ist. Die Befürworter dieser Regelung sollten sich versuchen vorzustellen wie es wäre, wenn sie in einem Wahlkreis mit einem einzigen Sitz wohnten.

Es ist nicht auszuschliessen, dass diese Bestimmung sogar gegen die bundesrechtliche Rechtsprechung verstösst.

Proporzwahlsysteme im Vergleich; Bericht der Bundeskanzlei“ vom 21.08.2023 lautet der Abschnitt 2.7.4 Zwischenbilanz:

Die bundesgerichtliche Rechtsprechung (oben Ziff. 2.7.2) erachtet also Wahlkreise von mindestens zehn Sitzen als erforderlich, damit noch von Proporz gesprochen werden kann. …  

Es lohnt sich zu bedenken, dass es immer für alle besser ist, wenn Minderheiten das Gefühl haben, fair behandelt zu werden.

 Der Änderungsvorschlag

Schwerpunkt im Änderungsvorschlag ist der Versuch, einen einfachen und gerechten Ersatz zu finden für die Regel:

Die Anzahl Stimmen eines Wählers im Wahlkreis ist stets gleich wie die Sitzzahl des Wahlkreises.

Aus der Abstimmungsvorlage vom 9. Feb. 2025 wird die Einführung des Doppelproporzes übernommen.

Aus dem geltenden Gesetz werden die Mindestsitzzahl (6) pro Wahlkreis und die Wahlregionen übernommen.

Neu hinzu kommen die Bestimmungen

  1. 1.Jede stimmberechtigte Person hat zehn Stimmen. 

  2. 2.Die Wahlkreisgrenzen innerhalb der bestehenden vier Wahlregionen werden durchlässig gemacht. 

Zu Punkt 1: Jede stimmberechtigte Person hat zehn Stimmen

In allen Wahlkreisen hat der Wahlzettel zehn Linien.

Er muss handschriftlich ausgefüllt werden, wie bisher die Freie Liste. Das gilt auch für Wahlkreise, denen wegen der Bevölkerungsentwicklung mehr als zehn Sitze zustehen.

Das handschriftliche Ausfüllen eines Wahlzettels mit maximal zehn Namen ist etwas ganz Anderes, als das Verändern einer vorgedruckten Liste.

Zu Punkt 2: In den vier Wahlregionen des Kantons werden die Wahlkreisgrenzen durchlässig gemacht.

Eine ähnliche Idee gilt übrigens bei Proporzwahlen (seit eh und je).  Beim Panaschieren werden auf einem Wahlzettel Kandidatinnen verschiedener Parteien notiert. Folglich sind die Parteigrenzen auf dem Wahlzettel durchlässig.

Was bedeutet nun die Durchlässigkeit von Wahlkreisgrenzen?

Am Beispiel des Wahlkreises Sissach mit sieben Sitzen in der Wahlregion vier soll veranschaulicht werden, wie durchlässige Wahlkreisgrenzen in einer Wahlregion funktionieren.

Nach Punkt 1 hat der Wahlzettel im Wahlkreis Sissach zehn Linien. Der Wahlzettel ist aufgeteilt in zwei Teile (siehe Wahlzettel am Ende der Datei).

Der obere Teil enthält so viele Linien wie der Wahlkreis Sitze hat, das sind sieben Linien. Auf diesen sieben Linien werden nun Kandidaten/Kandidatinnen aus dem Wahlkreis Sissach eingetragen (panschieren und kumulieren ist erlaubt). Mit anderen Worten: Der obere Teil des Wahlzettels wird genau gleich ausgefüllt wie bisher die Freie Liste.

Der untere Teil des Wahlzettels hat noch drei Linien. Auf diesen drei Linien können Kandidaten/Kandidatinnen aus den anderen Wahlkreisen der Wahlregion eingetragen werden. Im Beispiel sind das also Kandidaten/Kandidatinnen aus den Wahlkreisen Gelterkinden und Waldenburg.

Bei den Wahlkreisen mit mindestens zehn Sitzen entfällt der untere Teil des Wahlzettels. Diese WählerInnen können ihre zehn Stimmen innerhalb ihres Wahlkreises abdecken und geben daher keine Spenderstimmen ab. Umgekehrt hat ein Wahlkreis mit mindestens zehn Sitzen keinen Anspruch auf Spenderstimmen von den anderen Wahlkreisen der Wahlregion.

Durchlässige Wahlkreisgrenzen in Wahlregionen haben einen grossen Vorteil. Bei einem Sitzverlust eines Wahlkreises kann die verlorene Stimme durch eine zusätzliche Spenderstimme an einen Kandidaten eines anderen Wahlkreises der Wahlregion kompensiert werden.

Beispiel:  Angenommen der Wahlkreis Sissach hat bei der nächsten Landratswahl neu sechs statt sieben Sitze. Somit umfasst der untere Teil des Wahlzettels nun vier Linien, auf denen Stimmen für KandidatInnen der Wahlkreise Gelterkinden und Waldenburg abgegeben werden können!

Die im geltenden Gesetz definierten Wahlregionen werden aufgewertet, nicht abgeschafft. Einerseits haben sie eine ähnliche Funktion wie Wahlkreise mit etwa 20 Sitzen und andrerseits «kapseln» sie die Wahlkreise ein. Die bestehenden Wahlkreise garantieren ja, dass alle Regionen des Baselbiets im Landrat vertreten sind.

Ergebnisse der Modellrechnungen

Die zahlreichen Modellrechnungen zu den Wahlen des Nationalrates und zur Wahl des Landrates zeigen zweierlei:

1. Die Berücksichtigung von Spenderstimmen hat nur einen vernachlässigbar kleinen Einfluss auf die Sitzverteilung (s. Tabelle am Ende).

2. Viel grösser ist der Einfluss, wenn das Verfahren der Sitzverteilung geändert wird. Im Kanton BL ist das der Übergang vom geltenden Verfahren zum Doppelproporz (Doppelter Pukelsheim), bei der Wahl des Nationalrates beim Übergang von Verfahren Hagenbach-Bischoff zum Doppelproporz.

In einem Punkt sind sich alle einig. Das neue Sitzverteilungsverfahren bei der Wahl des Landrates soll den Wählerwillen besser abbilden. Diese Forderung erfüllt das vorgeschlagene Doppelproporzverfahren eindeutig!

Die Einführung von Spenderstimmen und die Zehn-Stimmen-Regel machen das Wahlverfahren aus der Warte der Stimmberechtigten viel gerechter.

Alle StimmbürgerInnen werden nun im Wahlgesetz gleichbehandelt.

Es liegt offenbar eine ähnliche Situation vor, wie bei der Einführung des Frauenstimmrechts. Auch dort ging es nicht um Sitzverschiebungen, sondern um Gleichberechtigung/Gerechtigkeit. Ziel des Kompromissvorschlages ist es, einerseits die Gleichbehandlung aller Wählerinnen und Wähler sicherzustellen und andrerseits Befürworter und Gegner der Vorlage zu einem Kompromiss zu bewegen.

Aus den dargelegten Gründen plädiere ich dafür, am 9. Februar 2025 «nein» zu stimmen, um so eine gerechtere Reform zu ermöglichen.



Hans Sutter, Mathematiker, Hobby-Obstbauer, Bretzwil



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Ergänzungen

Digitales Wählen/Abstimmen:

 Als Mathematiker vertraue ich jenen Stimmen aus der IT-Branche, die E-Voting grundsätzlich für nicht betrugssicher halten. S. nachstehenden Link zur Wahlpanne in BS https://steigerlegal.ch/2023/12/11/e-voting-panne-kanton-basel-stadt-post/

Wenn man bedenkt, wie stark gegenwärtig weltweit demokratisch regierte Staaten von Staaten mit totalitären Systemen unterschiedlichster Schattierung bedrängt werden, sollte eine Stimmbürgerin/ein Stimmbürger in der Schweiz bereit sein, den Aufwand für das handschriftliche Ausfüllen eines Wahlzettels dankbar in Kauf zu nehmen.

Listenverbindungen

Im Vorfeld der Nationalratswahlen vom 22.10 23 ist verbreitet Kritik geäussert worden über die grosse Zahl der eingereichten Listen in den verschiedenen Kantonen. Viel Unmut verursachten auch die unzähligen Listen- und Unterlistenverbindungen.

Werden die Sitze mit dem Doppelproporz (Doppelter Pukelsheim) verteilt, erübrigen sich erfreulicherweise Listenverbindungen. Aber: Oft liest man, dass eine Partei vor einer Wahl keinen oder zu wenig Kandidaten hat. Nun fallen normalerweise weder Landräte noch Bundesrätinnen vom Himmel!

Mögliche Abhilfe: Jede Partei kann eine Liste für die jungen WählerInnen einreichen. Diese Liste ist aber automatisch verbunden mit der Mutterpartei. Es dürfen jedoch nur Personen auf diese Liste, die z.B. im Wahljahr höchstens dreissig Jahre alt werden. Auf dieser Liste können so talentierte, an der Politik interessierte junge Leute Erfahrungen sammeln. Die KandidatInnen auf der Liste Junge WählerInnen sind die KandidatInnen der Mutterpartei von morgen!